Einfach kompliziert von Thomas Bernhard
Badische Zeitung vom 05.04.2007
Im Reich der Mäuse
Thomas Bernhards "Einfach kompliziert" mit Heinz Meier am Freiburger Wallgraben Theater
Ein Schreibtisch, ein Bett, zwei Stühle und ein Schaukelstuhl. Durch ein Fenster fällt Licht in das schäbige Zimmer, in dem dunkles Holz dominiert und dessen Wände einen frischen Anstrich nötig haben. Auf dem Boden hockt ein alter Mann mit einem Hammer in der Hand. Die Fußleisten hat er zugenagelt, denn von dort aus dringen Mäuse in sein Zuhause vor.
Das Reich des gealterten Schauspielers in Thomas Bernhards Drama "Einfach kompliziert" am Freiburger Wallgraben Theater ist längst nicht mehr die Bühne. Ist nicht mehr Bochum oder Duisburg, wo er einst den skrupellosen König Richard III. spielte. Der alte Mann ist Theaterprinzipal allenfalls noch im Reich der Mäuse, über deren Leben oder Tod er bestimmen wird. Die Welt und das Leben gehen ihm verloren ? 82 Jahre ist er alt und hat seine ganze Familie überlebt. Der Schauspieler, dessen Namen wir nicht erfahren, mit dem wir aber in 90 Minuten einen ganzen Dienstag verbringen dürfen, ist verbittert und einsam. Er streitet mit seiner vor 20 Jahren gestorbenen Frau, er hadert mit Shakespeare, Schopenhauer, Versicherungsvertretern und dem Hausmeister. In für Thomas Bernhard typischen kategorischen Behauptungen grenzt er sich vehement ab gegen die Außenwelt: "Beim Hosenbügeln der Schlag getroffen" , liest er aus einer Zeitung vor. "Ein lächerlicher Tod!" Diese Abgrenzung und die gleichzeitige Anmaßung des eigenen "Klarwasserfanatismus" rettet den Schauspieler vor seinem Untergang. Von Dienstag zu Freitag zu Dienstag ? denn nur an diesen Tagen tritt die Außenwelt in Gestalt einer Neunjährigen (fast ohne Text sehr ausdrucksvoll: Sophie Charlotte Carius) in sein Zimmer, die ihm frische Milch bringt. In der Uraufführung von "Einfach kompliziert" 1986 am Berliner Schillertheater spielte Bernhard Minetti die Rolle des Alten. Die Aufgabe eines Bernhard-Schauspielers, sagte Minetti einmal, sei es, dessen Personen "bis ins Detail in ihrer Menschlichkeit zu folgen" . Heinz Meier, der den alternden Schauspieler in der Wallgraben-Produktion verkörpert, tut genau dies. Der Bernhard-Kenner ist dabei so authentisch und in Mimik und Gestik so fein differenziert, dass es als Zuschauer schwer fällt, sich auf der Holzbank zu entspannen: Man könnte ja eine der kleinen und doch so präzise eingesetzten Handbewegungen verpassen, ein verschmitztes Lächeln, ein grimmiges Stirnrunzeln, ein kauziges Augenzusammenkneifen. Und dazu diese Sprache, die oft keine vollständigen Sätze braucht, um Atemlosigkeit, Erregung, Wut, Enttäuschung und Verletzung auszudrücken, um Alltäglichkeiten, Scham, Witz, Lebensfreude und Komik auszubreiten. Heinz Meier, Mitbegründer des Wallgraben-Theaters und langjähriger Prinzipal, schlüpft nicht einfach in eine Rolle: Der 77-Jährige ist dieser Schauspieler; es ist sein Abend! Die behutsame Regie von Regine Effinger unterstützt ihn vorbehaltlos. Sie lässt ihm den Raum, den er braucht, um in Filzpantoffeln das Zimmer zu durchmessen, um sich an den Schreibtisch zu klemmen, umständlich die Brille aufzusetzen und auf ein Stück Papier die Worte "Mausgift kaufen" zu malen, um sich die Shakespeare-Krone aufzusetzen ? und mit ihr die königliche Würde eines Schauspielers in seiner Rolle. Als Heinz Meier zum Ende des Stücks laut nachdenkt, wie er vor wenigen Jahren noch am "Ball der Alten" im Haus teilgenommen hat und dort mit Kostproben seiner Schauspielkunst "begeisterte" , da verschwimmen die Grenzen zwischen Stück und Realität gänzlich. Als Meier sich zum fast frenetischen Schlussapplaus verbeugt, scheinen seine Augen feucht zu glänzen. Auch Regine Effinger ist bewegt. Alle sind es.